23.01.2025
Nach Giechenland kommen wir in die Türkei, auch dieser Schritt stand schon länger auf unserer Reiseplanung. Was uns erwartet können wir nicht so recht sagen und das, obwohl wir doch den ein oder anderen ursprünglich türkischstämmigen Freund haben. Der Grenzübergang in die Türkei bei Ipsala ist beeindruckend, er besteht aus drei Abschnitten, die von großen prunkvollen Toren eingeteilt werden. Es läuft alles ab wie immer, Passkontrolle, dann zum Zoll. Der möchte zum ersten Mal in unser Womo reinschauen, sagt kurz den Kids „Merhaba“ und fragt dann, ob wir einen Motor haben… Äh – wie genau dachte er denn, dass unser Wohnmobil funktioniert? Philip zeigt ihm irritiert Lucas‘ Motor, der Grenzbeamte schaut ebenso ratlos den Motor an. Nach ein wenig hin und her mit Google Übersetzer finden wir heraus, dass er wissen wollte, ob wir ein Motorrad dabeihaben – Ahhh! Nein haben wir nicht. Weiter geht’s zum finalen Check aller Angaben und schon sind wir in der Türkei. Wir fahren ein paar Kilometer und finden zuerst mal, es sieht nicht anders aus als Griechenland. Viele, viele Olivenbäume.
Mit der Fahrt über die Brücke 1915 Çanakkale Köprüsü, mit einer Spannweite von 2023 Metern die längste Hängebrücke der Welt, überqueren wir die Dardanellen und befinden uns dann auf dem Asiatischen Kontinent. Kurz hinter der Stadt Çanakkale sehen wir auf der Karte Troja. Da wir mit den Kindern das Hörbuch „Ich, Odysseus, und die Bande aus Troja“ von Frank Schwieger gehört haben, ist ein Stopp ein Muss!
Sage und Realität verschwimmen, Panda und Löwin sind beeindruckt von dem riesigen Holzpferd, in dass wir, wie die Griechen, hineinklettern können. War das nicht alles nur eine Geschichte? Wir schlendern durch die weitläufigen Ausgrabungen, sehen die Überreste des Tempels der Aphrodite und fragen uns wie viel der Geschichte Wirklichkeit war. Auch das zum Archäologischen Park gehörige Museum ist einen Besuch wert, in einem modernen Gebäude sind hier die kostbarsten Funde der Gegend ausgestellt. Den Panda faszinieren die kleinen Hologramme, die das damalige Leben darstellen am meisten, die Löwin würde gerne mal den goldenen Kopfschmuck anprobieren.
Über Izmir und Nazilli geht unsere Fahrt weiter nach Kale, in den Bergen hinter Kale sind wir mit Anil verabredet. Die Plattform HelpX vermittelt Workaways wie den Aufenthalt bei Anil. Gegen Kost und Logis werden wir ihm zwei Wochen lang dabei helfen, seinen Traum einer kleinen ökologischen Farm (evtl. inklusive Campingplatz und Kommune?) zu verwirklichen.
Wir haben das Gefühl, mal wieder irgendwo ankommen zu müssen. Die Kids möchten nicht mehr täglich Auto fahren und brauchen mehr Freiheit und Bewegung. Längere Zeit auf einem Campingplatz zu stehen ist für mich, nicht nur aus Kostengründen, keine Option. Und so kommen wir auf die Idee mit dem Arbeiten gegen Kost und Logis. Anil antwortet schnell auf unsere Nachricht, er ist einer der wenigen Gastgeber, der Familien mit Kindern akzeptiert.
Kurz vor unserem Treffen mit Anil sind meine Zweifel wieder groß. Was, wenn wir die Arbeit mit den Kindern nicht leisten können? Wenn sie sich langweilen, streiten und nerven, sich nicht ordentlich benehmen? Was, wenn wir uns nicht mit Anil verstehen? Vielleicht ist das doch alles zu viel, gerade jetzt, wo wir so lange nur auf uns eingestellt waren?
Aber es gibt kein Zurück mehr, wir haben zugesagt, jetzt versuchen wir es auch!
Anil empfiehlt uns tagsüber bei ihm anzukommen, da die Straße zu ihm wohl etwas schwierig ist. Das kann man wohl sagen! Wir verlieren vor lauter über-Steine-gehoppel unser Reserverad unterwegs. Zum Glück hat sich nur eine Schraube gelöst und wir treffen bald darauf Anil und Bella, eine zweite Mitarbeiterin aus China. Wir verbringen einen entspannten ersten Abend mit leckerem türkischem Essen, vorgekocht von Anils Mutter.
Am nächsten Tag zeigt uns Anil unser Projekt, da Philip sich mit Elektrik auskennt, sollen wir ihm bei dem Bau einer Solaranlage helfen. Dazu muss als erstes eine Pergola gebaut werden, über die sich später Wein ranken soll und auf welcher die Solarzellen ihren Platz finden werden. Während Philip und ich mit der Motorsäge in den Wald ziehen, um ein paar Pinien zu fällen, bekommen auch die Kinder ein eigenes Projekt: Sie werden eine Treppe aus Reifen bauen.
Schon am nächsten Tag haben wir frei, Anil ist in der Stadt und muss seinem Job als Röntgentechniker nachgehen.
Wir machen uns mit Bella auf den Weg nach Aphrodisias, einem weiteren Park mit archäologischen Ausgrabungen. Die Ausgrabungen von Aphrodisias sind wahnsinnig gut erhalten, wir fühlen uns wirklich wie in einer antiken Stadt. Durch das Tor des Tempels der Aphrodite, hinab in ein riesiges Amphitheater, vorbei an antiken Bädern und der Stadthalle bis hin zu einem weiteren Theater, alles ist sehr gut erkennbar und frei zugänglich. Absperrungen und Schilder, die besagen, man möchte bitte auf den Wegen bleiben, gibt es hier nicht. Die Kinder und ich liefern uns einen waschechten Gladiatorenkampf im Amphitheater. Philip und Bella sind die jubelnden Zuschauer. Ein einmaliges Erlebnis!
Aus Denizli hat Anil seine Mutter und seine vierjährige Tochter mitgebracht. Ab jetzt wird das Essen zum Schlemmen, seine Mum verwöhnt uns mit den leckersten türkischen Gerichten. Und ich komme mal wieder ins Zweifeln. Meine Blasenentzündung flammt wieder auf, auch das schlägt mir aufs Gemüt. Ich weiß nicht so recht, wo hier mein Platz ist. Die Kids bauen die Treppe, Philip fällt Bäume, Bellas Projekt ist das Entfernen von Dornenbüschen, Anils Mama kocht. Und ich? Ich habe den Eindruck ich kann nichts beisteuern. Beim Essen bin ich gestresst, dass die Kinder nicht zu viel kleckern und nerven. Am liebsten würde ich einfach wieder fahren. Das Einordnen in diese neue soziale Gruppe fällt mir erstaunlich schwer. Wie sagt man – Abwarten und Tee trinken. In diesem Fall hat es geholfen. Ich gönne mir einen Tag Auszeit im Womo und trinke viel Tee. Das hilft der Blasenentzündung und damit auch meiner Stimmung. Am nächsten Tag zeigt mir Philip, wie ich mit der Motorsäge umgehen kann und ich fälle einen Baum. Gemeinsam transportieren wir dann die Stämme zum Bauplatz der Pergola. Ab jetzt Arbeiten Anil, Bella, Philip und ich gemeinsam daran, die Pfosten für die Pergola aufzustellen.
So finden wir einen neuen Alltag, spätes ausgedehntes Frühstück, entspanntes Arbeiten und leckeres Abendessen von Anils Mama. Nach dem Essen unterhalten wir uns wunderbar über türkische, chinesische und deutsche Kultur, Kindererziehung oder Lebensentwürfe. Als Anils Mutter und Tochter wieder zurück in die Stadt müssen, übernehme ich die Essensversorgung und heimse das vielleicht größte Lob der Reise ein „Inga, you cook like turkish woman!“ sagt Anil. Das liegt aber nur daran, dass ich all die eingemachten Leckereien seiner Mum zur Verfügung habe. Ein ordentlicher Löffel ihres selbstgemachten Tomaten- oder Paprikamarks und das Essen ist perfekt gewürzt!
Als Anil wieder im Krankenhaus arbeiten muss, starten wir, gemeinsam mit Bella, einen weiteren Ausflug. Wir möchten die Kalksteinterrassen von Pamukkale ansehen. Der Ausflug fällt allerdings buchstäblich ins Wasser – oder eher in den Matsch! Es hat angefangen zu regnen, auf dem weichen Lehmboden drehen unsere Räder durch und graben tiefe Löcher in Anils Einfahrt. Nachdem wir immer weiter den Hang hinunterrutschen, geben wir den Ausflug auf und starten einen Rettungsversuch des Wohnmobils, bevor es noch weiter abrutscht. In zweistündiger Schwerstarbeit ziehen wir Lucas mit Hilfe einer Ratsche und einem Baum wieder den Berg hoch.
Pamukkale bekommen wir zum Glück doch noch zu sehen, Anil fährt uns mit seinem Jeep! Er muss Besorgungen in Denizli machen und setzt uns am Eingang des Parks ab.
Die Oma zuhause hat uns schon von Pamukkale vorgeschwärmt, „Da müsst ihr unbedingt hin!“ hat sie gesagt. Als sie damals dort war, waren noch alle Becken mit Wasser gefüllt und sie konnte in jedem Becken baden. Heute sind die meisten Bereiche abgesperrt und trockengelegt, um sie vor den Touristenmassen zu schützen. Sehenswert ist Pamukkale aber auf jeden Fall weiterhin! Wir haben Glück, das Wetter ist wunderschön sonnig und es sind relativ wenige Touristen vor Ort. Wir spazieren barfuß durch das warme Wasser über die Terrassen den Berg hinauf zu den Ausgrabungen des Hierapolis Theaters. Der Weg über den Kalk fühlt sich surreal an, alles sieht aus wie Schnee, doch die Füße bewegen sich über harten Kalk im warmen Thermalwasser. Der Park zwischen den Kalksteinterrassen und den Hierapolis Ausgrabungen ist wunderschön angelegt, Picknicktische überblicken die Aussicht, die Terrassen und die Ausgrabungen, die Atmosphäre ist entspannt und lädt zum Verweilen ein.
Am Abend nehmen wir Abschied von Bella, für sie geht es zurück nach China, um dort mit ihrer Familie das chinesische Neujahr zu feiern. Mit Anil genießen wir Pide, türkische Pizza, in seinem Lieblings Pide Restaurant Elmalli Pide.
Schon am Tag darauf kommen die nächsten Helfer, Susi und Thorval aus Frankreich. Täglich bekommt Anil weitere Anfragen von Helfern, die Zeit bei ihm verbringen möchten. Schon über 20 Helfer hat er empfangen und so sein Domehaus innerhalb von einem Jahr gebaut. „Ist es nicht anstrengend, sich immer wieder auf neue Menschen einlassen zu müssen?“ frage ich ihn. Doch schon, gibt er zu, doch es macht ihm auch Spaß, die Leute kennenzulernen und viele interessante Unterhaltungen zu führen. Er möchte seine Idee, seine Art zu leben, anderen näherbringen. Ich denke daran tut er gut. Viele Menschen suchen heute nach alternativen Lebensweisen und die von Anil gefällt auch uns besonders gut! Wir fühlen uns wie in einer Blase der Harmonie. Weit weg von Stress und Zwang. Wir arbeiten für etwas, dass uns allen zugutekommt. Die Pergola spendet Schatten im Sommer und durch die Solarzellen vor allem notwendigen Strom – unsere Wäsche müsste nämlich mal wieder gewaschen werden und Anil hat extra eine Waschmaschine besorgt!
Susis und Thorvals Projekt ist es, eine richtige Treppe aus einem Baumstamm für das Domehaus zu bauen, denn Thorval ist Schreiner. Anil findet für jeden seiner Helfer ein passendes Projekt. Der Panda und die Löwin haben ihre Treppe aus Reifen ganz alleine fertig gebaut! Nur selten hat Anil einen Tipp gegeben, eine Technik gezeigt. Als nächstes graben sie einen Graben für ein Abwasserrohr. Auch alleine. Die beiden möchten gar nicht wieder weiterfahren, sagen täglich, dass sie für immer bei Anil bleiben möchten. Es tut ihnen gut diese eigenen Projekte zu haben, sie fühlen sich gebraucht und haben, wie wir, das Gefühl einen wichtigen Beitrag für unsere Gemeinschaft zu leisten. Das geht in Deutschland oft unter. Wann haben Kinder hier die Gelegenheit etwas zu schaffen, dass auch für die Erwachsenen wichtig ist? Hier bei Anil, freuen wir uns alle täglich über die neue Reifentreppe, die den Zugang zum Haus um einiges erleichtert.
Dann sind die Solarzellen angeschlossen und die Wäsche ist tatsächlich gewaschen. Fahren möchten wir eigentlich trotzdem nicht. Der Abschied von Anil fällt uns schwer. Lange sitzen wir am Abend im Domehaus, essen, reden, zeigen uns gegenseitig unsere Urlaubsfilme. Der Abend endet in einem gemeinsamen Baglama (traditionelles türkisches Instrument) spielen und vielen Umarmungen mit dem Versprechen zurückzukommen. Anil sagt, er hat in Philip einen Bruder gefunden. So hat sich unsere Zeit bei ihm auch angefühlt – nach Heimkommen!